- Home
- Unser Verein
- Historie des Vereins
Die Historie unseres Vereins
Auf dieser Seite möchten wir Ihnen die Historie unseres Vereins näher bringen. Seit über 111 Jahren engagieren wir uns für die Interessen von Hörbehinderten. Vielen Dank an unser Mitglied Christian Hannen für das Bereitstellen der Texte.
Übersicht
- Gründung und Frühzeit
- In der NS-Zeit – Teil 1
- In der NS-Zeit – Teil 2
- Der BdS 1945-1949 – Teil 1
- Der BdS 1945-1949 – Teil 2
Die Gründung und die Frühzeit des Hamburger Schwerhörigenvereins
Die Gründung und die Frühzeit des Hamburger Schwerhörigenvereins
Unser Verein wurde vor bald genau 100 Jahren gegründet. Eine Art Keimzelle des Vereins mag sich jedoch schon mehrere Jahre vorher gebildet haben. Seit etwa 1899 veranstaltete Martha Meier, selbst schwerhörig, in Hamburg-Eppendorf, wahrscheinlich in ihrer Wohnung, Absehkurse, die von Ertaubten und Schwerhörigen besucht wurden. Von einem Zeitzeugen, der sie dabei kennen gelernt hatte, wird Martha Meier beschrieben als „eine ebenso feinsinnige wie mitfühlende Dame, die ihren Schülern und Schülerinnen herzlich verbunden blieb“. Um sie bildete sich ein Kreis von Hörgeschädigten, die miteinander freundschaftlich verbunden waren.
In der ersten Hälfte des Jahres 1912 erschienen in Hamburger Zeitungen Anzeigen, die zur Gründung eines Schwerhörigenvereins aufriefen. Urheber war der Leiter der Hamburger Schwerhörigenschule Wilhelm Fehling (1882-1962), der auch einen Briefwechsel mit dem Vorsitzenden des erst am 18. Mai 1912 gegründeten Berliner „Schutzverbandes der Schwerhörigen“, dem Architekten Franz Brönner, begann und von diesem einige Adressen schwerhöriger Hamburger erhielt, u.a. auch die der Frau Meier. Fehling, im Jahre 1912 noch ein eher junger Lehrer, erst seit 1907 im hamburgischen Schuldienst, hatte bereits in den beiden vorangegangenen Jahren Tatkraft und Durchsetzungsvermögen unter Beweis gestellt, indem er 1910 mit einer Denkschrift an die Schulbehörde die Gründung einer (damals noch neuartigen) Schwerhörigenschule in Hamburg anstieß. Nur ein Jahr später wurde diese neue Schule im Schulgebäude Capellenstraße 5 (heute Baumeisterstraße, beim Hansaplatz) eingerichtet – mit Fehling als Schulleiter.
Am 9. Juni 1912 trafen sich dort etwa 50 Personen – unter ihnen wahrscheinlich Frau Meier und ihr Kreis – und gründeten den Schwerhörigenverein, der sich bald darauf als Ortsgruppe dem überregionalen „Schutzverband der Schwerhörigen“ (S.d.S.) mit dem Hauptsitz Berlin anschließen sollte. Das Gründungsprotokoll hat sich leider nicht im BdS-Archiv erhalten. Brönner hatte Fehling brieflich den Ablauf der Gründungsversammlung vorgezeichnet: ein paar einleitende Worte, dann die Wahl des Vorsitzenden, des Schriftführers und des Schatzmeisters.
„Die Wahl des Vorsitzenden wird zweifellos auf Sie fallen“ – so geschah es, und so blieb es 20 Jahre lang, bis 1932. Die Vereinssatzung wurde sicher erst nach der Gründung ausgearbeitet. Die Schule war dann in den ersten Jahren Versammlungsort und Geschäftsstelle der neuen Ortsgruppe Hamburg des S.d.S.
Nur wenig später, am 14. Juni 1912, wurde in Hamburg noch eine zweite Schwerhörigen-Vereinigung, der Hephata-Verein, ins Leben gerufen, der sich als Ortsgruppe des Berliner Hephata-Verbandes der Margarethe von Witzleben verstand. Vorsitzende war Adelheid Flemming; ihr Anliegen war vor allem die Organisation von besonderen Gottesdiensten für Schwerhörige.
Die S.d.S.-Ortsgruppe dagegen war auf die soziale Fürsorge für die Hamburger Schwerhörigen ausgerichtet. In der frühesten bekannten Satzung vom 31. August 1916 werden unter dem Paragraphen 2 „Zweck des S.d.S.“ konkret als Aufgaben und Ziele genannt u.a.: Berufsberatung und Arbeitsvermittlung, Rechtsauskunft, Absehkurse, Hilfen bei der Anschaffung von Hörapparaten und weiteren Hilfsmitteln, aber auch die sozialpolitische Arbeit gegen die Benachteiligung von schwerhörigen Menschen im Arbeitsleben und bei den Behörden.
Wie notwendig die soziale Fürsorge war, zeigte sich bald auch den hamburgischen Behörden deutlicher als zuvor. Durch den Ersten Weltkrieg, der im August 1914 begann, bildete sich eine neue Gruppe von Hörgeschädigten: die Kriegsinvaliden, die durch Verwundung und Krankheit ihr Gehör (weitgehend) verloren hatten und auf Hilfen zur Reintegration in die Arbeitswelt angewiesen waren. Die Fürsorge für diese Menschen fiel neben der Wohlfahrtsbehörde der Schwerhörigenschule und dem S.d.S. zu. Im Schulgebäude fanden seit 1915 Absehkurse für Kriegsbeschädigte statt.
Die große Nachfrage nach einem dauerhaften Beratungs- und Hilfsangebot führte schließlich im Mai 1919 zur Eröffnung einer eigenständigen Fürsorgestelle für Schwerhörige und Ertaubte im Gebäude Steinstraße 1 (heute befindet sich dort das Einwohneramt Hamburg-Mitte). Ihr Aufgabenfeld deckte sich weitgehend mit dem genannten der Vereinssatzung. Fehling, der die Leitung dieser Stelle übernahm, erhielt hierfür eine partielle Freistellung vom Schuldienst. Auch der Verein zog in dieses Gebäude; er blieb also mit der Fürsorgestelle räumlich eng verbunden. Die ersten 15 Jahre unseres Vereins sind leider im BdS-Archiv kaum dokumentiert. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sich ein zeittypisches Vereinsleben mit monatlichen Mitgliederversammlungen, diversen Festen, Vorträgen und Ausflügen entwickelte.
1928 konnte der Verein ein großes Grundstück in Garstedt – damals noch deutlich außerhalb der Stadt – erwerben. Mitglieder bauten dort noch im selben Jahr eine bescheidene Schutzhütte aus Holz auf. Dieses kleine Landheim konnten die Vereinsmitglieder nun zum Ausgangspunkt oder Ziel eines Ausflugs ins Grüne machen. Auch Sommerfeste wurden hier veranstaltet – Archivfotos aus dieser Zeit zeigen, dass sie bei Jung und Alt beliebt waren.
Der Hamburger Schwerhörigenverein in der NS-Zeit – Teil 1
Die Nationalsozialisten konnten seit ihrer Machtübernahme im ersten Viertel des Jahres 1933 mit Hilfe der sogenannten Gleichschaltung die Kontrolle über weite Bereiche der Gesellschaft erlangen. Davon blieben das deutsche Vereinswesen und auch die Vereinigungen der Hörgeschädigten nicht verschont. Die Schwerhörigenbewegung erlebte innerhalb dieses Jahres eine umwälzende Entwicklung, bei der sie rasch vereinheitlicht und zugleich an die NS-Diktatur angepasst wurde.
Die Landschaft der Schwerhörigen-Organisationen war zur Zeit der Weimarer Republik unübersichtlich und konnte mit einigem Recht als „zersplittert“ bezeichnet werden. Seit 1927 gehörte der Schutzverband der Schwerhörigen (SdS) dem „Reichsverband der deutschen Schwerhörigen-Verbände“ an, einer Arbeitsgemeinschaft, der noch drei weitere Verbände angehörten, unter ihnen der ebenfalls relativ mitgliederstarke evangelische Hephatabund. Verhandlungen über die Bildung einer einheitlichen Dachorganisation für alle Schwerhörigen waren mehrfach im Sande verlaufen. Nach der Gründung der Parteiorganisation „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV) im Mai 1933 verstärkte sich ein von den zuständigen Behörden schon seit der Wirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre ausgehender Druck, der die Verbandsvorstände anscheinend befürchten ließ, dass die bisherigen Verbände als Vertretungen der Schwerhörigen bedeutungslos werden könnten.
Daher schlossen sich die dem Reichsverband zugehörigen Verbände mit Ausnahme des auf seine konfessionellen Bindungen beharrenden Hephatabundes in größter Eile am 10. Juni 1933 zu einer Gesamtorganisation zusammen, dem „Deutschen Schwerhörigenbund“ (DSB). Vorsitzender wurde der bisherige SdS-Vorsitzende Wilhelm Fehling. Vermutlich glaubte man, damit den neuen Machthabern ausreichend entgegengekommen zu sein und doch eigenständig bleiben zu können.
Dies genügte den Partei- und Regierungsstellen nicht; die NSV, die für alle Fragen der Fürsorge und der Wohlfahrt zuständig gemacht wurde, war darauf aus, eine tatsächliche Unterordnung, wenn nicht Eingliederung der Schwerhörigen-Organisationen – die „Gleich-schaltung“ – zu erzwingen. In weniger als drei Monaten setzte sie die Neugründung einer einheitlichen Gesamtorganisation für alle Schwerhörigen durch, den am 16. August 1933 gegründeten „Reichsbund der deutschen Schwerhörigen“ (RDS, später wurde die Abkürzung RBS benutzt), in den der DSB und der Hephatabund aufgingen.
Der Reichsbund wurde nach den Richtlinien der NSV strukturiert: Es wurde das „Führerprinzip“ vorgeschrieben, d.h. die verbands- und vereinsinterne Demokratie wurde abgeschafft. Der RDS war vollständig von der NSV abhängig; diese behielt sich wesentliche Entscheidungen vor und erließ über die Reichsbundesleitung Anordnungen, die die einzelnen RDS-Verwaltungs-ebenen und -Ortsgruppen umzusetzen hatten. Als „Reichsbundesführer“ setzte die NSV statt Fehling seinen Weggenossen in der Verbandsarbeit, den Hamburger Dr. Alfred Dreyer – vormals Mitglied des SdS-Gesamtvorstands – ein. Dieser trat von nun an offen als Nationalsozialist auf (er trat 1937 der NSDAP bei) und gab den von der NSV ausgehenden Anpassungsdruck unvermindert an die Ortsgruppen weiter. Die Geschäftsstelle des Reichsbundes wurde im Gebäude Steinstraße 1 eingerichtet, also in unmittelbarer Nachbarschaft zur Hamburger Ortsgruppe. Keine zwei Wochen nach der Gründung des Reichsbundes, am 24. August 1933, verfügte Dreyer im Auftrag der NSV die Umwandlung aller Schwerhörigen-Vereine in Ortsgruppen des Reichsbundes.
Da sich im BdS-Archiv neben den Versammlungsberichten, die in der Deutschen Zeitschrift für Schwerhörige und Ertaubte publiziert worden sind, auch Protokolle des Hamburger Vereinsvorstandes aus den Jahren 1933 bis 1935 erhalten haben, können wir einen Einblick in die Entwicklung vor Ort gewinnen. Die „Gleichschaltung“ wurde vom damaligen Vorstand ohne jeden Widerstand akzeptiert und mitvollzogen. Die Vorstandsmitglieder sind dabei kaum der NSDAP zuzurechnen, doch verstanden sie sich offenbar als nationalkonservativ bzw. schlicht als ‚unpolitisch‘. Ob es unter den einfachen Mitgliedern Proteste gab, ist nicht zu ermitteln. Schon am 9. Mai – also noch vor der Gründung des Deutschen Schwerhörigenbundes – verabschiedete der Hamburger Vorstand einstimmig eine Ergebenheitserklärung, die vermutlich von dem Reichsinnenministerium verlangt worden war: „Der Vorstand der Ortsgruppe Hamburg des Schutzverbandes der Schwerhörigen bekennt sich zur nationalsozialistischen Staatsform, indem er die Arbeit der heutigen Regierung pfleglich unterstützen will und wird. […]“ Diese Erklärung wurde von allen Vorstandsmitgliedern unterzeichnet. Bezeichnenderweise tat der Vorsitzende Johannes Lett diesen Vorgang als reine Formalie ab, indem er laut Protokoll „betont, daß wie bisher Politik in unserem Verein ausgeschaltet bleibe, da unsere Bestrebungen lediglich dem Schutze der Leidensgefährten gelten“. Im Kreis des Vorstandes stand man dem Zusammenschluss der Schwerhörigen-Verbände und -Vereine zustimmend gegenüber, da die bisherige Zersplitterung die Interessenvertretung gegenüber der Politik und der Gesellschaft behindert hatte. Von der NS-Regierung erwartete man nun eine stärkere Berücksichtigung der Belange der Schwerhörigen. Die Abschaffung der Demokratie wurde hingenommen.
Christian Hannen
Der Hamburger Schwerhörigenverein in der NS-Zeit – Teil 2
Zur Ortsgruppe des zentralistisch organisierten Reichsbundes der deutschen Schwerhörigen wurden die Hamburger SdS-Ortsgruppe und der Hephata-Verein gewissermaßen „automatisch“, ohne dass die Vereinsmitglieder gefragt wurden. Sie wurden in der außerordentlichen Hauptversammlung am 12. September 1933, der ersten nach der Gründung des Reichsbundes, vor vollendete Tatsachen gestellt, mit nationalsozialistischer Rhetorik auf die neuen Verhältnisse eingestimmt und zur bloßen Akklamation animiert. Eine ordentliche Abstimmung fand nicht statt. Da allerdings die frühere SdS-Ortsgruppe nach dem Vereinsgesetz juristisch noch fortbestand, wurde am 5. Dezember 1933 doch noch eine weitere außerordentliche Hauptversammlung abgehalten, um eine satzungsgemäße Auflösung des Vereins zu erwirken. Die hierfür erforderliche Stimmenmehrheit erhielt der Vorstand. Damit war der Hamburger Verein nur noch eine unselbständige Untergruppierung des Reichsbundes. Die Zusammensetzung des Vorstandes änderte sich im Zuge der „Gleichschaltung“ nicht sehr stark – Johannes Lett behielt als „Ortsgruppenführer“ den Vorsitz. Vom Hamburger Hephata-Verein war die ehemalige Vorsitzende Adolphine William als Stellvertreterin Letts in den Vorstand eingetreten, außerdem Frau Bubert als 2. Schriftführerin.
Der Reichsbund erhielt Anfang 1934 offiziell eine neue Satzung, die nach dem Führerprinzip gestaltet war und einen „Arierparagraphen“ enthielt – dieser untersagte die Aufnahme von jüdischen Mitgliedern. Schon am 4. September 1933 hatte der Hamburger Ortsgruppenvorstand anhand der NSV-Richtlinien klar zur Kenntnis genommen, dass der Antisemitismus nunmehr zur offiziellen Linie des Reichsbundes geworden war – eine ablehnende Reaktion innerhalb des Vorstandes ist im Protokoll nicht dokumentiert. Dass die Ortsgruppe selbst zwei oder mehr Mitglieder jüdischer Konfession oder Herkunft hatte, macht ein einziger Satz im Protokoll vom 6. September 1935 – zwei Jahre nach der „Gleichschaltung“ – wahrscheinlich: „Es folgen noch einige kurze Hinweise in Bezug auf unsere nicht-arischen Mitglieder.“ Leider lassen sich keine Namen ermitteln, und der Zusammenhang dieser Textstelle kann nicht erhellt werden. Doch könnte die Erwähnung zu diesem Zeitpunkt ein Indiz dafür sein, dass Johannes Lett und die anderen Vorstandsmitglieder im Stillen eine andere als die offiziell-antisemitische Linie verfolgten – mit oder ohne Wissen Dreyers, der ja im selben Haus residierte. Dies ist allerdings eine Vermutung, die nicht weiter erhärtet werden kann. Johannes Lett wurde drei Jahre nach der „Gleichschaltung“ – im April 1936 – durch den Lehrer Theodor Hinzpeter abgelöst, der wiederum zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zur Wehrmacht eingezogen wurde, so dass die Vereinsführung bis zum Kriegsende im Mai 1945 nur stellvertretend von den Herren Hoving, Breitling und Meindermann sowie zuletzt von Wilma Kuhls wahrgenommen wurde.
Im Jahre 1938 musste der Verein in das Souterrain des Behördengebäudes ABC-Straße 46 umziehen, weil das alte Domizil Steinstraße 1 abgerissen werden sollte. Die Fürsorgestelle wurde in das Bieberhaus am Hauptbahnhof verlegt. Dass die neue Adresse der Ortsgruppe über 50 Jahre – bis 1989 – gültig bleiben würde, ahnte damals sicher niemand.
Der Reichsbund der deutschen Schwerhörigen bestand bis zum Sommer 1943. Dreyer war bereits im Juli 1935 als Reichsbundesführer zurückgetreten; der Sitz des Reichsbundes hatte sich daraufhin nach Berlin verlagert. Im Verlauf des Sommers 1943 wurde er zusammen mit den Reichsbünden der Gehörlosen und der Gehörlosenlehrer zugunsten der unter Federführung der NSV zwischen Mai und August 1943 gegründeten „Deutschen Gehör- und Sprachgeschädigtenwohlfahrt“ (DGS) aufgelöst. Deren Leiter wurde der Münchener Taubstummenlehrer Karl Engelmann. In dieser neuen Dachorganisation hatte nach der NSV eindeutig die Lehrerschaft das Hauptgewicht; daher konnte von einer Selbstvertretung der Hörbehinderten auf Reichsebene nicht mehr die Rede sein. Die bisherige Ortsgruppe Groß-Hamburg wurde – wie alle anderen Ortsgruppen – im Zuge dieser Umstrukturierung formal als „eingetragener Verein“ wieder verselbständigt, damit der Reichsbund vereinsrechtlich getilgt werden konnte. Sie erhielt dabei den bis heute geführten Vereinsnamen, der nach dem Krieg lediglich verkürzt wurde: Bund der Schwerhörigen und Spätertaubten des Gaues Hamburg e.V. Für den Verein änderten sich die Abhängigkeitsverhältnisse jedoch nicht.
Die zahllosen Bombenangriffe auf Hamburg seit 1940 und sogar den verheerenden Großangriff mit dem folgenden Feuersturm Ende Juli 1943, der auch die Nachbarschaft verwüstete, überstand das Gebäude ABC-Straße 46 nahezu unbeschädigt – ein unwahrscheinliches Glück. Allerdings kam das Vereinsleben für Monate ganz zum Erliegen; etliche Vereinsmitglieder waren umgekommen oder ausgebombt und evakuiert worden; der Nahverkehr in der Stadt war stark eingeschränkt, und die Vereinsräume wurden zeitweise beschlagnahmt, dann aber im Frühjahr 1944 teilweise wieder dem Verein zur Verfügung gestellt. In den letzten Monaten vor Kriegsende führte Wilma Kuhls die Vereinsgeschäfte und unternahm es mit einer erstaunlichen Zähigkeit, trotz aller Schwierigkeiten Sprechstunden und Veranstaltungen stattfinden zu lassen sowie das Mitteilungsblatt herzustellen und zu verschicken, um so die Kontakte zu den weit zerstreuten Mitgliedern aufrechtzuerhalten.
Christian Hannen
Der BdS 1945-1949 – 1. Teil
Nach Aufhebung des Versammlungsverbots durch die britische Militärregierung kam das Vereinsleben im September/Oktober 1945 wieder in Gang. Theodor Hinzpeter (1883-1952), der seit 1936 den Vorsitz innehatte, jedoch bei Kriegsbeginn zur Wehrmacht eingezogen worden war, übernahm die Vereinsleitung nach seiner Rückkehr vom Einsatz in der Kinderlandverschickung von neuem. Die Erstellung und Versendung des BdS-Mitteilungsblattes wurde umgehend wiederaufgenommen. Im ersten Mitteilungsblatt nach Kriegsende, das im Oktober 1945 erschien, sind bereits mehrere Vereinsveranstaltungen angezeigt: eine Bibelstunde und ein Schwerhörigengottesdienst mit Pastor Gerber (1902-1975), der Absehkurs und eine Vollversammlung, die am 21. Oktober 1945 in einem Saal der Landesbildstelle an der Rothenbaumchaussee stattfinden sollte. Auf dieser wurde diskutiert, wie es mit dem Verein weitergehen sollte, und es wurden Hinzpeter und seine Mitarbeiterinnen – u.a. Wilma Kuhls (1897-1989) – und Mitarbeiter bis zur Einberufung einer ordentlichen Hauptversammlung als Vorstand bestätigt. Die Situation des BdS stellte sich folgendermaßen dar: Die Vereinsräume im Untergeschoss des Gebäudes ABC-Straße 46 waren intakt geblieben, sogar der Vielhörer war noch funktionsfähig. Auch die Hörmittelberatungsstelle im Bieberhaus am Hauptbahnhof war noch vorhanden und wurde wieder geöffnet. Damit hatten der BdS und die Hamburger Schwerhörigen großes Glück gehabt. Doch waren im Vereinsheim vorläufig nur zwei Zimmer nutzbar; der als „Saal“ bezeichnete große Raum war beschlagnahmt worden. Für größere Versammlungen musste der Verein einen Saal anmieten.
Etliche Mitglieder waren als Ausgebombte evakuiert worden und lebten z.T. weit außerhalb Hamburgs, viele hatten aus unterschiedlichen Gründen ihre Beiträge seit Jahren nicht mehr entrichtet. Da die Mitgliederunterlagen im Feuersturm 1943 verloren gegangen waren, musste die Vereinsverwaltung neu aufgebaut werden. Die finanziellen Mittel blieben auf Jahre hinaus sehr bescheiden. Trotzdem wurde regelmäßig Monat für Monat ein Mitteilungsblatt von zwei Seiten geschrieben, in einer Auflage von etwa 400 Exemplaren vervielfältigt und an sämtliche erreichbaren Mitglieder in Hamburg und außerhalb verschickt. Im Mitteilungsblatt wurden nicht nur Vereinsnachrichten bekannt gegeben, sondern auch Berichte von (auswärtigen) Mitgliedern abgedruckt, zu deren Einsendung eigens aufgerufen wurde. Diese Berichte stellen heute eine bemerkenswerte Quelle dar, denn von den „einfachen“ Mitgliedern ist sonst wenig überliefert.
Am 7. Mai 1946, das Kriegsende lag ein Jahr zurück, fand die erste ordentliche Mitgliederversammlung statt.
Erwartungsgemäß wurde Hinzpeter zum Vorsitzenden gewählt. Da er kurz darauf schwer erkrankte, übernahm Johannes Lett (1876-1957) als stellvertretender Vorsitzender die Vereinsleitung. Obwohl Lett 1946 bereits 70 Jahre alt war, erwies er sich in den folgenden Jahren als unermüdlich im Organisieren und Vermitteln. Er sorgte mit den anderen Vorstandsmitgliedern dafür, dass regelmäßig Heimabende mit der Möglichkeit der Unterhaltung und zum Skat- und Schachspiel in der ABC-Straße 46 stattfanden, außerdem Treffen und Feste auf dem Landheim sowie Spaziergänge und Wanderungen in der näheren Umgebung. Auch die traditionelle Weihnachtsfeier für die Mitglieder wurde trotz aller Schwierigkeiten veranstaltet. Gut besucht waren die Absehkurse, die der Schwerhörigenlehrer Erich Krug (1919-1990) seit September 1945 kontinuierlich in den Vereinsräumen durchführte. Ein Grund dafür dürfte der Mangel an Batterien und Ersatzteilen für Hörgeräte gewesen sein, der sich schon während des Krieges bemerkbar gemacht, sich nach Kriegsende aber verschlimmert hatte.
Viele Schwerhörige konnten ihr Gerät nicht mehr benutzen und versuchten, diesen Verlust durch Absehen wenigstens teilweise auszugleichen. Diejenigen, die noch ein funktionierendes Gerät besaßen, nutzten es nur, wenn es unbedingt nötig war. An ein neues Hörgerät war damals kaum zu denken. Die Batterie-Produktionsstätten in Deutschland waren teilweise zerstört oder in den sowjetisch besetzten Gebieten gelegen; die Fabriken, die noch produzieren konnten, hatten selbst große Schwierigkeiten bei der Materialbeschaffung. Hinzpeter und Lett nahmen 1946 angesichts des Batterie-Mangels, der in den Mitteilungsblättern immer wieder thematisiert wird, eigens Kontakt zur Firma „Daimon“ auf, um die Lage zu verbessern. Tatsächlich konnten so Hörgeräte-Batterien in begrenztem Umfang organisiert werden. Es mussten aber alte, verbrauchte Batterien gesammelt und an Daimon abgeliefert werden, damit das Material wiederverwendet werden konnte. Der BdS verteilte schließlich jahrelang neue Hörgeräte-Batterien, die auf diesem Wege beschafft wurden. Für arbeitslose und arme Mitglieder gab es 1947 hierzu einen Zuschuss aus der Vereinskasse.
Christian Hannen
Der BdS 1945-1949 – 2. Teil
Wie sehr diese Jahre 1945 bis 1949 eine Zeit des materiellen Mangels waren, beweist die Durchsicht der Mitteilungsblätter auch in anderer Hinsicht. Mehrere Male stand die Erstellung des Mitteilungsblattes auf der Kippe, weil das nötige Papier nur schwer zu beschaffen war. Der Vorstand rief dazu auf, Altpapier zu spenden, um es gegen neues Papier eintauschen zu können. In den Wintern war der allgemeine Mangel an Heizmaterial ein ständiges Problem; daher sollten die Mitglieder beim Besuch von Veranstaltungen Kohle oder Holz mitbringen. Im Oktober 1945 trafen sich Mitglieder auf dem Garstedter Landheim-Grundstück, um dort Bäume zu fällen, deren Holz zum Heizen der Vereinsräume benötigt wurde. Für diese Arbeit fanden sich genügend Helfer, da sich jeder einen „Armvoll“ Holz mit nach Hause nehmen durfte. Später gab es „Holzsammelwanderungen“ in die Garstedter Waldungen.
Bei den Weihnachtsfeiern 1945 und 1946 waren Kaffee und Kuchen von den Mitgliedern mitzubringen; dies galt auch für viele andere Veranstaltungen. Für die Weihnachtsfeier 1947 wurden vorher von den Mitgliedern Brotmarken eingesammelt, damit der Kuchen bereitgestellt werden konnte. Ein Jahr später war der Verein nicht in der Lage, für die Weihnachtsfeier einen großen Saal zu mieten. So wurden dann drei Feiern nacheinander in den eigenen Räumen – der Saal war inzwischen zurückgegeben worden – veranstaltet. In der Mitgliederversammlung am 27. August 1947 wurde Lett zum Vorsitzenden gewählt, da Hinzpeter krankheitsbedingt die Vereinsarbeit nicht wieder aufnehmen konnte, und es wurde beschlossen, den Namen des Vereins von „Bund der Schwerhörigen und Spätertaubten des Gaues Hamburg e.V.“ in „Bund der Schwerhörigen e.V. Hamburg“ zu ändern und den BdS neu ins Vereinsregister eintragen zu lassen. Vorher schon hatte sich im Verein eine neue Jugendgruppe gebildet, die zunächst unter dem Namen „Die Sterntaler“ auftrat. Sie pflegte gesellige Zusammenkünfte, machte Wanderungen und führte bei den Festen im Landheim Volkstänze auf. Nachdem der Leiter Theodor Buffleben (1922-1990) sich aus beruflichen Gründen zurückgezogen hatte, machte die Gruppe allerdings einige Turbulenzen durch, bis Kurt Hempel die Leitung übernahm. Hempel wurde im Februar 1949 zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt, während Lett als Vorsitzender be-stätigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte der BdS 475 Mitglieder; die Mitgliederzahl war seit 1945 deutlich angestiegen. Doch waren viele alte Mitglieder so arm, dass sie den Beitrag nicht aufbringen und oft nicht einmal das Geld für die Fahrkarte erübrigen konnten, um eine Vereinsveranstaltung zu besuchen. Solche Mitglieder unterstützte der Vorstand auch aus der Vereinskasse, um ihnen beispielsweise die Möglichkeit zu geben, an der Weihnachtsfeier teilzunehmen. Die Währungsreform mit der Einführung der D-Mark im Juni 1948 hatte dem BdS zunächst erhebliche Finanzprobleme beschert, doch wurde es nun langsam leichter, benötigte Güter zu beschaffen. So konnten im Sommer und Herbst 1949 zum ersten Mal seit etlichen Jahren Renovierungsarbeiten in den Vereinsräumen und in der alten Garstedter Schutzhütte durchgeführt werden. Nicht nur die reparierten und frisch gestrichenen Räume, auch die Gründung des Deutschen Schwerhörigen-Bundes im Mai 1949 zeigten deutlich, dass nun auch für Schwerhörige eine neue Zeit anbrach, die Aussicht auf ein besseres Leben bot.
Christian Hannen