In der letzten Ausgabe des BdS-Aktuell habe ich die gesetzlichen Grundlagen für die Leistungsansprüche von Behinderten vorgestellt. Ihre Belange sind nicht nur im Sozialgesetzbuch IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ geregelt, sondern auch in anderen Büchern, so vor allem über die Gesetzlichen Krankenkassen, die Arbeitsförderung, die Rentenversicherung und die Sozialhilfe.
Das im Dezember 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz sollte das im Sozialgesetzbuch kodifizierte Behindertenrecht im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention zu einem Teilhaberecht reformieren. Entsprechend groß waren die Erwartungen der Behindertenverbände. Ein Forum behinderter Juristinnen und Juristen erarbeitete sogar einen vollständigen Gesetzesentwurf. Ein Kernpunkt war die Einführung eines nach dem Grad der Behinderung gestaffelten Teilhabegeldes, analog zu dem Blindengeld, das in einigen Bundesländern gewährt wird. Dieses Teilhabegeld sollte unabhängig von Einkommen und Vermögen als Nachteilsausgleich die Mehraufwendungen von Behinderten decken.
Im Verlauf der parlamentarischen Beratungen drängte sich jedoch – neben dem Ziel der Teilhabe – ein anderes Ziel in den Vordergrund, nämlich die Begrenzung der Ausgabendynamik. Als Bremser fungierten vor allem die Bundesländer, die zusammen mit den Kommunen, die Hauptlast der Sozialausgaben tragen. Da der Bund nur in begrenztem Maße bereit war, die Kommunen zu entlasten, verschwand das Teilhabegeld von der Tagesordnung.
An seine Stelle trat die Reform der Eingliederungshilfe. Sie soll Menschen mit einer Behinderung oder von Behinderung bedrohten Menschen helfen, die Folgen ihrer Behinderung zu mildern und sich in die Gesellschaft einzugliedern (§ 53 SGB XII). Wie das erwähnte Teilhabegeld soll die Eingliederungshilfe den durch die Behinderung bedingten Mehrbedarf ausgleichen. Allerdings ist die Eingliederungshilfe nach bisherigem Recht als Sozialhilfeleistung konzipiert Das heißt, dass nur Bedürftige im Sinne der Sozialhilfe die Eingliederungshilfe ungeschmälert kassieren können. Bei allen anderen würde die Eingliederungshilfe auf ihr Einkommen angerechnet.
Trotz des begrenzten Empfängerkreises entfaltete die Eingliederungshilfe die stärkste Ausgabendynamik. Innerhalb von 10 Jahren stiegen die Ausgaben bis 2015 um 50% auf 17 Mrd. Euro. Über 80% der 900.000 Empfänger wurden in speziellen Einrichtungen wie Werkstätten und Heimen gefördert. Es handelt sich also um eine sehr spezielle Klientel.
Die Reform des Bundesteilhabegesetzes besteht darin, dass die Eingliederungshilfe nicht mehr als Fürsorgeleistung, sondern als Teilhabeleistung betrachtet wird und vom Sozialgesetzbuch XII „Sozialhilfe“ nach Sozialgesetzbuch IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ wandert.
Der Gesetzgeber wollte die Eingliederungshilfe nicht unabhängig vom Einkommen und Vermögen gewähren. Es gelten aber großzügigere Anrechnungen als bei der Sozialhilfe. So beträgt das „Schonvermögen“ für die Eingliederungshilfe seit Jahresanfang 25.000 Euro. Und ab 2020 über 50.000 Euro. Die Freigrenze beim Einkommen wird ab 2020 rund 30.000 Euro im Jahr betragen. Für darüber hinausgehende Einkommen muss ein Eigenanteil von 2% für in Anspruch genommene Leistungen der Eingliederungshilfe geleistet werden. Zweifellos wird der Kreis der Anspruchsberechtigten dadurch erweitert.
Wer soll aber künftig Eingliederungshilfe beziehen können? Der ursprüngliche Gesetzesentwurf sah eine Neudefinition der Bezugsberechtigten vor. Nicht mehr medizinische, sondern soziale Kriterien sollten maßgebend sein. Der im Entwurf vorgesehene §99 definierte neun typische Lebensbereiche. Anspruch auf Eingliederungshilfe sollte nur haben, wer in fünf der Lebensbereiche Defizite aufwies. Dieser Vorschlag wurde aufgrund des massiven Widerstandes der Behindertenverbände bei der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes fallen gelassen. Bis 2023 gilt die bisherige Definition. Bis dahin soll ein neuer Kriterienkatalog erarbeitet und erprobt werden.
Eine weitere Frage ist, welche Mehrbedarfe künftig erstattet werden können. Erfreulicherweise nennt das Bundesteilhabegesetz für Hörbehinderte ausdrücklich Kommunikationshilfen, damit sind insbesondere Schrift- und Gebärdendolmetscher gemeint. Allerdings hat der entsprechende §82 einen gravierenden Schönheitsfehler. Ein Anspruch auf Assistenzleistung besteht nur „bei besonderem Anlass“. Ähnliches gilt für den grundsätzlich zu begrüßenden Anspruch auf Assistenzleistung bei ehrenamtlicher Tätigkeit. Hier sollen die Betroffenen sich Assistenz „aus dem familiären, befreundeten oder nachbarschaftlichen Umfeld“ holen.
Als wie vorläufig selbst die Autoren des Bundeteilhabegesetzes ihr Werk betrachten, ist daraus zu ersehen, dass es bis 2023 auf den Prüfstand gestellt und durch ein neues Gesetz abgelöst werden soll. Hier sollten unsere Verbände darauf drängen, dass Schrift- und Gebärdendolmetscher nicht im Wege von Einzelfallentscheidungen zugesprochen werden. Stattdessen sollen die Betroffenen ein pauschales jährliches Kontingent an Dolmetscherstunden erhalten, über das sie frei verfügen können (sogenanntes finnisches Modell).
Fortsetzung (dritter Teil) folgt hier.
Hans-Hagen Härtel